Ausstellungsansicht Marcel Dzama, Courtesy Sies + Höke und der Künstler
New Adventures in Pataphysics – Marcel Dzama: The Dove is never free, Sies + Höke
Als das Lämpchen der kleinen Siebträgermaschine ihre Bereitschaft signalisierte, machte sich Friedrich an die Zubereitung seines allmorgendlichen Heißgetränks, welches zum Erreichen der richtigen Trinktemperatur eines Schlucks kalter Milch bedurfte. Mit Zeige- und Mittelfinger schob er zwei Lamellen der Jalousie auseinander und vergewisserte sich, dass der Himmel blau war, woraufhin er sich an den Küchentisch setzte und ein wenig in den sozialen Medien herumscrollte. Auch bei Schönewein schien am Vorabend ganz schön etwas los gewesen zu sein. Offensichtlich war während der Vernissage ein Feuer ausgebrochen, woraufhin man alle Mühe gehabt hatte, die Bewohner der oberen Etagen vor den Flammen zu retten. Da die Feuerwehr beim Ausrücken ihr Sprungpolster vergessen hatte, hatte man ein paar der dort ausgestellten Graupner-Bilder auf die Straße getragen und die Leute hineinspringen lassen. Hinterher berichteten die Geretteten, dass es für sie ein ganz außerordentliches Erlebnis gewesen sei, so tief in die Farbraumkörper einzudringen. Ein Blinder, der todesmutig den Sprung von ganz oben gewagt hatte, konnte danach wieder sehen. Nachdem er das dreckige Geschirr abgespült und ein auf der Arbeitsplatte stehendes Glas Sambal Oelek zugeschraubt hatte, genehmigte er sich ein Pfeifchen Crystal Meth und ging einkaufen. Wie gewohnt war um die Tageszeit im Rewe nicht viel los. Eine Frau stand am Kühlregal und aß Schinken aus einer Klarsichtverpackung, während ein Mann vor ihm auf einer Banane ausrutschte, daraufhin aber gleich wieder aufstand und weiterging. Zu Hause öffnete er sein Textverarbeitungsprogramm und schrieb an seiner Dissertation weiter. „Im Zuge eines kongenialen Akts der Radikalisierung entlässt Derrida die Semiotik de Saussur’scher Prägung in ein infinites Kontinuum ohne ontologische Relation zum transzendentalen Signifikat.“ Vortrefflich! Gerade mal sieben Stunden hatte er dafür gebraucht. Jetzt musste er sich allerdings sputen, um nicht zu spät zur nächsten Ausstellungseröffnung zu kommen.
Ausstellungsansicht Marcel Dzama, Courtesy Sies + Höke und der Künstler
Er gurgelte etwas Mundwasser, schnitt sich vor dem Badezimmerspiegel noch die Ohrläppchen zurecht, bis er mit seinem Äußeren gänzlich zufrieden war und holte sein Fahrrad aus dem Keller, mit dem er wehenden Haares ins Stadtzentrum fuhr. Nachdem er es an eine Laterne gekettet hatte, blieb er eine Weile bei einem Strassenmusiker stehen, der mit einer solchen Vehemenz in sein Instrument blies, dass ihm schlagartig die Fontanelle hätte platzen müssen. Aus dem Saxophon kamen die wildesten Sachen wie Blumensträuße, Laserpistolen und Seepferdchen heraus, bis er knietief in allerlei Krempel stand. Elastischen Schrittes legte Friedrich die letzten Meter zur Galerie zurück und hielt einer Dame, die einen Fuchs an der Leine führte und sich mit einem vielsagenden Blick aus schwarz umrahmten Augen bedankte, die Tür auf. Dzama hieß der Mann, Marcel Dzama aus KANADADA und das passte ganz gut zu dem, was hier veranstaltet wurde. Wohlwollend beäugt von einem Kollektiv kunstbeflissener Connaisseure und Connaisseusen tat sich an den Wänden des schneeweißen Emporensaals allerlei Kurzweiliges auf; elegant gekleidete Schönheiten mit Zorromasken, Riesenschmetterlinge und rauchende Meeresungeheuer, alles in flinkem Duktus dahinappliziert, welcher keinen Anlass zu geringster Beanstandung bot.
Marcel Dzama: Brave girls promise me you will not shrink yourself to make others feel comfortable, 2022, Gouache, Wasserfarbe, Tusche und Grafit auf Papier, 31 x 23 ohne Rahmen, 36 x 28 x 4 cm mit Rahmen, Courtesy Sies + Höke und der Künstler
Vom vorderen Bereich führte ein schmaler Treppenkorridor ins Souterrain, wo sonst Angestellte die Galerie an flachen Macintosh-Monitoren durch die Turbulenzen des Kunstbetriebs navigierten und der motivische Reigen eine nahtlose Fortsetzung nahm. Vertieft in die Betrachtung leicht bekleideten Bildpersonals nebst exotischen Getiers fiel ihm im Augenwinkel ein lebhaft vor sich hin fabulierender Herr mit struppigem Grauschopf und zwei dicken Glasbausteinen auf, durch die seine Augen wie durch ein umgedrehtes Fernglas zu sehen waren. Neugierig auf die zu ihm rüberwabernden, ringsum mit Ausrufen des Erstaunens wie UH, OH und AH quittierten Worte, stellte er sich mit gespitzten Ohren zur kleinen Gruppe der Zuhörenden. Wie ein Vogel von Ast zu Ast hüpfte dieser offenkundige Experte zwischen den Bildern hin und her und ließ die versammelten Kunstguckerinnen und -gucker an seinen elaborierten Gedankengängen teilhaben. „Alle Mythen und Märchen die durch den Äther des kollektiven Bewusstseins schwirren, werden kräftig durcheinander geschüttelt und zu einer neuen Geschichte zusammengebaut.“ Mit ausdrucksstarker Mimik und Ganzkörpergestik unterstrich er die Tragweite des Gesagten. „Schauen Sie nur, hier schlüpft die karthagische Mondpriesterin Salammbô aus Flauberts gleichnamigen Historienepos in die Rolle des Titanen Prometheus, welcher einst von den Göttern das Feuer stahl. Oder hier meine Damen und Herren, möglicherweise irren sich die griechisch-antiken Schreiberlinge und Paris hat sich angesichts der schwierigen Urteilslage einfach für eine Ménage-à-quatre mit Aphrodite, Athene und Hera entschieden.“
Ausstellungsansicht Marcel Dzama, Courtesy Sies + Höke und der Künstler
Friedrich verstand im Großen und Ganzen nur Bahnhof, fühlte sich aber bestens unterhalten. „Am Ende, und damit möchte ich für heute schließen, bleibt es ganz Ihnen überlassen, welcher Lesart des hier dargebotenen Melodramas, oder, wenn Sie mir diesen kleinen Scherz erlauben, Melodzamas Sie den Vorzug zu geben belieben.“ Vereinzelt bog man sich ob dieses köstlichen Wortspiels in exaltiertem Gelächter. „Wahrlich, ein vorzüglicher Kunsterklärer, ma Chère!“ flüsterte die Dame mit dem Fuchs einer anderen, sich mit einem Fächer Kühlung verschaffenden zu, woraufhin man sich allmählich zu absentieren begann und auch Friedrich sich vom Ort des Geschehens verabschiedete. Sapperlot, da hatte er wieder etwas Interessantes erlebt! Er war im Kopf noch ganz schön auf Sendung, als er kurz darauf mit einem Döner auf die Hand wieder nach Hause radelte. Die Sonne, welche den ganzen Tag zitronengelb über der Stadt gestanden hatte, ging nun unter und ließ die ein Stück des Flusses neben ihm herspringenden Barrakudas im Abendlicht glitzern. Vielleicht würde er heute Nacht von Cowboys träumen, die auf Dinosauriern oder scheunentorgroßen Schmetterlingen ritten. Man wusste nie, was das Unterbewusste so ausheckte.
Marcel Dzama
The Dove is never free
9. April – 7. Mai 2022
Galerie Sies + Höke
Poststr. 2 + 3
40213 Düsseldorf
Öffnungszeiten:
Montag – Freitag 10 – 18:30 Uhr
Samstag 12 h – 14:30 Uhr