Indoors Construction 2018/2019, 190 x 340 cm, Pigment auf Nessel, © Jörn Stoya, Courtesy Petra Rinck Galerie, Düsseldorf, Foto: Achim Kukulies
Mehr Licht – Jörn Stoya: Ne Me Quitte Pas, Petra Rinck Galerie
Hypochondrisch grundierte Befindlichkeitsbekundungen gehören grundsätzlich weniger zu der Kategorie von Äußerungen, die sich produktiv in kunstbezogene Fachtexte einbringen lassen. Umstände, unter denen sich kaum ein Handgriff tätigen lässt, ohne über gesundheitliche Konsequenzen für sich und andere nachzudenken, mögen eine diesbezügliche Ausnahme rechtfertigen, zumal es dieser Tage nicht nur um die kollektive Vermeidung einer potentiell lebensbedrohlichen Erkrankung, sondern auch um körperliche und psychische Beeinträchtigungen geht, welche infolge einer vom ständigen Sound mehr oder weniger alarmierender „Corona-News“ untermalten Stubenhockerei geradezu vorprogrammiert sind. Während es einem als Angehörigem einer nicht systemrelevanten Berufsgruppe überlassen bleibt, wahlweise mit Rückenschmerzen, Bore-Out oder Budenkoller Vorlieb zu nehmen, zeigt sich draußen der Frühling von seiner besten Seite. Alle Unternehmungen, denen man bis vor einem Monat noch freudig entgegensah, sind entweder gar nicht oder nur noch unter Einhaltung weitreichender Restriktionen möglich, was jegliche Unbeschwertheit zunichte macht. Für Kunstgucker*innen und Personen, die generell ein Auge für schöne Dinge haben, bedeutet dieser Zustand gleich zweifache Entbehrung – Museen und Galerien sind bis auf Weiteres geschlossen, wohingegen sich eine in allen Farben erblühende Natur lediglich in gleichsam rationierten Dosen genießen lässt.
Ausstellungsansicht, © Jörn Stoya, Courtesy Petra Rinck Galerie, Düsseldorf, Foto: Achim Kukulies
Die unweigerliche Tatsache, dass das Leben zeitweise mehr im Kopf stattfindet, ließe sich dabei zum Anlass nehmen, sich dem Thema der visuellen Wahrnehmung eher theoriebezogen anzunähern. Angesichts zahlreicher natur- und geisteswissenschaftlicher Implikationen kann es einer dahingehenden Expertise nur zuträglich sein, über einen entsprechend gefächerten Bildungshorizont zu verfügen. Eine Person über die man dies zweifelsfrei behaupten kann, war Johann Wolfgang Goethe, der aufgrund einer außerordentlichen Fülle an intellektuellen und musischen Fähigkeiten von vielen als Universalgenie verehrt wird. Eine Sache, die Goethe, zumindest dem eigenen Bekunden nach, nicht konnte, war Malen. Wie er in privaten Unterhaltungen darlegte, veranlasste ihn gerade diese Nichtbegabung dazu, der Malerei unter all seinen Interessengebieten einen besonderen Stellenwert beizumessen.1 So soll er Gemälde befreundeter Künstler nicht nur ausgiebig studiert, sondern aus damit einhergehenden Gesprächen auch entscheidende Anregungen für seine Farbenlehre gezogen haben, welche er rückblickend als sein bedeutendstes Verdienst ansah.2 Diese Einschätzung steht gleichwohl im Widerspruch zur herrschenden Meinung, wonach die hier gewonnenen Erkenntnisse auf wissenschaftlichen Irrtümern beruhen. So gilt es heute als erwiesen, dass sich weißes Licht in Entsprechung zu Isaac Newtons Theorie aus dem Licht der Spektralfarben zusammensetzt und dass Letztere nicht, wie von Goethe behauptet, durch die Herbeiführung eines scharfen Hell-Dunkel-Kontrastes entstehen.
Johann Wolfgang Goethe: Skizze zum Thema Lichtbrechung, um 1800, Foto: Klassik Stiftung Weimar
Dieser offenkundige Trugschluss mag als Beleg für die Fehlbarkeit einer der größten Figuren der abendländischen Kulturgeschichte gewertet werden. Genauso gut kann man ihn als Zeugnis eines individuellen Forschungsansatzes würdigen, dessen naturwissenschaftliche Widerlegbarkeit seinem empirischen und kulturellen Wert insofern keinen Abbruch tut, als dass er sich in anderen Bereichen als wegweisend erwiesen hat. Der Umstand, dass Goethes Auseinandersetzung mit physikalischen Fragestellungen untrennbar mit seinem Interesse an ästhetischen Faktoren verknüpft war, wird gemeinhin als Ursache für die mangelnde Objektivität seiner Arbeitsweise angeführt. Dabei macht sich eine nachhaltige Relevanz weniger an optisch als an farbsensorisch fundierten Erhebungen fest, welche das vom Dichter durchgeführte Projekt als vorweggenommene Spielart gestaltpsychologischer Experimente erscheinen lassen.3 Verdeutlicht wird diese Qualität auch anhand eigenhändig angefertigter Aquarellskizzen, deren Anschaulichkeit im Übrigen keine gänzlich unausgeprägte künstlerische Ader vermuten lässt.
Lo-Fi, Myrna Hague, pigment on paper 2020, © Jörn Stoya, Courtesy Petra Rinck Galerie, Düsseldorf, Foto: Achim Kukulies
Die Tatsache, dass seine bildnerischen Hervorbringungen mittlerweile von Museumsbesuchern bestaunt werden, hätte dem Mitbegründer der Weimarer Klassik vermutlich ebenso zur Zufriedenheit gereicht, wie jene, dass sich große Künstler nachfolgender Epochen auf seine Farbenlehre berufen haben. Künstler die sich seinen wissenschaftlichen Standpunkt dezidiert zu eigen machen, sind dabei nicht stringent von solchen zu unterscheiden, die farbtheoretische Erwägungen zum zentralen Aspekt ihres Schaffens erheben. Bisweilen wird die Verwendung von Farbe als „selbstreferentiellem Medium“ dabei in einer Weise als konzeptueller Faktor in den Vordergrund gerückt, dass das Moment einer unvoreingenommenen Seherfahrung durch didaktische Rezeptionsvorgaben konterkariert wird. Eine solche Tendenz lässt sich beispielsweise bei Josef Albers ausmachen, dessen umfangreiche Werkserie “Hommage to the Square” maßgeblich durch die wiederum an Goethe angelehnte Farbenlehre Johannes Ittens beeinflusst wurde. Albers’ Angewohnheit entsprach es, die hierin enthaltenen Darstellungen farbiger, stets identisch angeordneter Quadrate rückseitig mit Notizen zu den jeweiligen wahrnehmungsspezifischen Eigenheiten zu versehen. Ob derlei statische Bildaussagen unter kreativen Maßgaben eine adäquate Entsprechung zu den hier angerissenen Theoremen bilden oder eine etwas weniger dogmatische Ausrichtung ihrem Sinn und Zweck in höherem Maße Rechnung trägt, bleibt letztlich Ansichtssache. Für Menschen, die sich mit der zweiten Variante eher anfreunden können, ergibt sich besondere Veranlassung, sich die derzeit in der Galerie Petra Rinck stattfindende Ausstellung anzuschauen.
The Way We Fall / Teardrops I, 100 x 80, 2019, Pigment auf Nessel, © Jörn Stoya, Courtesy Petra Rinck Galerie, Düsseldorf, Foto: Achim Kukulies
Eingedenk einer solchen Unterscheidung scheint sich der Inhalt des hier Gezeigten weniger am Interesse an analytisch motivierten Seherfahrungen als am körperlichen und geistigen Bedürfnis nach Farbe auszurichten. Konkret verdankt sich die Gelegenheit dieses Bedürfnis zu stillen Bildern des Düsseldorfer Künstlers Jörn Stoya, die aufgrund der bereits beklagten Umstände vorerst jedoch nur hinter einer Glasfront zu sehen sind. Auch wenn man Aussagen über die Auswirkung bestimmter Farben aufs Gemüt keinen uneingeschränkten Glauben schenkt, ist ein stimulierender Effekt der polychromen Motive, die der ehemalige Schüler von Gotthard Graubner durch das Aufreiben reiner Pigmente auf Nessel entstehen lässt, nicht von der Hand zu weisen. In einem kürzlich geführten Interview kommentiert er seine Absichten dahingehend, dass sich in seinen aktuellen Werken ein Moment des Widerstands manifestiere, worunter er in diesem Zusammenhang keinen Ausdruck einer grundlegend aufrührerischen Mentalität, sondern einen Gegenimpuls zu unerfreulichen Begleiterscheinungen menschlicher Existenz verstehe.4 Diese Programmatik, welche er weiterhin mit der einfachen Formel „Farbe = Freude = Widerstand“ auf den Punkt bringt, spezifiziert er an gleicher Stelle, indem er einzelne Farben mit besonderen Eigenschaften oder Funktionen assoziiert. Äußerungen wie jene, dass Gelb gleichermaßen als Signal wie auch als „Kissen“ funktioniere, geben dabei Einblick in eine intuitive Erkundung der hier behandelten Materie.
Ausstellungsansicht, © Jörn Stoya, Courtesy Petra Rinck Galerie, Düsseldorf, Foto: Achim Kukulies
Synästhetische Ideen, welche in Jörn Stoyas Schilderungen verschiedentlich anklingen, erscheinen auch vor dem Hintergrund naheliegend, dass sich seine berufliche Betätigung über das Bildnerisch-Künstlerische hinaus in den musikalischen Bereich erstreckt. In diese Richtung gehen auch Anmerkungen, wonach Elemente rhythmischer Gestaltung in seiner Malerei eine sichtbare Entsprechung finden. Farblich verfremdete Porträtfotografien von Musikerinnen und Musikern wie der jamaikanischen Jazz-Sängerin Myrna Hague, in denen eine solche Programmatik anhand figurativer Motive ersichtlich wird, stehen wiederum Darstellungen gegenüber, welche diffuse Vorstellungen von Farbakkorden oder -klängen evozieren und aufgrund zentralperspektivischer Anmutungen an raumakustische Phänomene denken lassen. Ob man die bunten Quader und Wände als Äquivalent zu musikalischen Motiven deuten oder ungeachtet aller Erklärungsansätze als Therapeutikum auf sich wirken lassen mag, bleibt am Ende ebenso freien Abwägungen überlassen, wie die Frage, inwieweit farbpsychologische Faktoren mit objektiv festschreibbaren Grundsätzen überein zu bringen sein müssen. Newton, Goethe oder Itten kann man allenthalben als Beispiele dafür im Hinterkopf behalten, dass eine mehr als beiläufige Beschäftigung mit dem Thema Farbe einen unter nicht weniger vielfältigen Vorzeichen auf interessante Wege zu führen vermag. In Zeiten teilweiser visueller Entwöhnung könnte eine vergleichbare Tätigkeit hilfreich sein, um sich ein Paar ansprechende Bilder vors geistige Auge zu zaubern, bevor sich in absehbarer Zeit die Möglichkeit bietet, den verödeten Sehnerven eine koloristische Breitseite angedeihen zu lassen.
Jörn Stoya:
Ne Me Quitte Pas
Petra Rinck Galerie
Birkenstraße 45
40233 Düsseldorf
Öffnungszeiten:
Mittwoch bis Freitag 13-18 Uhr
Samstag 12-16 Uhr
Wieder geöffnet ab dem 23. April. Die Ausstellung wird bis Juni verlängert.
Fußnoten
- Vgl. Hardy, Anne: Goethes Farbenlehre reloaded. Der Dichter als explorativer Experimentator, in: Forschung Frankfurt. Jg. 32, Nr. 2, 2015, S. 124–127. Goethe selbst erklärte sein leidenschaftliches Kunstinteresse mit den Worten “Ja ich fühlte hierzu, wozu ich eigentlich keine Anlage hatte, einen weit größeren Trieb als zu demjenigen was mir von Natur leicht und bequem war.”
- Vgl. Ebd. Diese Einschätzung brachte Goethe mit den folgenden Worten zum Ausdruck: “Auf alles, was ich als Poet geleistet habe, bilde ich mir gar nichts ein. Daß ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der einzige bin, der das Rechte weiß, darauf tue ich mir etwas zugute (…)”
- Vgl. Ebd.
- Vgl. Vogel, Sabine B.: Jörn Stoya. Farbe als Widerstand, in: KUNSTFORUM International, Bd. 263, 2019, S. 216 ff..