Mark Alexander

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Mark Alexander: American Bog (Flag 1777), 2013, Öl auf Leinwand, 68,5 x 98,3 cm, Courtesy der Künstler

Transcending Nothingness – Strategien des ontologischen Nichtwissens als Werk­prämisse in Mark Alexanders Werken

“Time, he’s waiting in the wings
He speaks of senseless things
His script is you and me, boy

Time, he flexes like a whore
Falls wanking to the floor
His trick is you and me, boy”

David Bowie, “Time”

Stel­len Sie sich ein Mu­se­um vor, in dem Wer­ke der all­ge­mein ge­läu­fig­sten Stil­rich­tun­gen in je­weils ei­ge­nen Räu­men prä­sen­tiert wer­den, und in dem je­der die­ser Räu­me mit ei­nem kur­zen Wand­text mit we­sent­li­chen Er­läu­te­run­gen zur je­wei­li­gen Stil­rich­tung aus­staf­fiert ist. Stel­len Sie sich wei­ter­hin ei­ne in die­sem Zu­sam­men­hang mit ku­ra­to­ri­schen Auf­ga­ben be­trau­te Per­son vor, die die­ses Aus­stel­lungs­kon­zept aus nicht wei­ter zu be­stim­men­den Be­weg­grün­den ab­än­dert, in­dem sie bei­spiels­wei­se die Wer­ke der Im­pres­sio­nis­ten im Mi­ni­mal-Art-Raum und je­ne der Sur­re­a­lis­ten im Pop-Art-Raum po­si­tio­nie­ren lässt. Ver­mut­lich wä­re in ei­nem sol­chen Fall mit ir­ri­tier­ten Re­ak­tio­nen zu rech­nen, wel­che sich nicht zu­letzt dem Um­stand schul­den wür­den, dass die an der Wand ste­hen­den In­for­ma­tio­nen im Hin­blick auf die zu be­sich­ti­gen­den Ex­po­na­te kei­nen Sinn er­gä­ben. Gleich­wohl sich an der Be­schaf­fen­heit der Wer­ke nichts ge­än­dert hät­te, wür­de ein er­heb­li­cher Teil der Be­su­cher­schaft der­lei Un­ge­reimt­hei­ten ver­mut­lich als jed­we­der un­ge­stör­ten Kunst­be­trach­tung ab­träg­lich und da­her als kor­rek­tur­be­dürf­tig er­ach­ten. Eben­so selbst­ver­ständ­lich, wie Mu­se­ums­be­su­cher­in­nen und -be­su­cher ei­ne un­ver­brüch­li­che Über­ein­stim­mung zwi­schen dem, was sie zu se­hen be­kom­men und den da­zu bei­ge­ge­be­nen Er­läu­te­run­gen er­war­ten kön­nen, darf man da­von aus­ge­hen, dass ei­nem in ei­ner Buch­hand­lung kein Dra­ma von Wil­liam Shakes­peare im Ein­band ei­nes Ro­mans von Franz Kaf­ka ver­kauft wird, oder dass un­ter der An­kün­di­gung ei­ner Auf­füh­run­gen von Bach-Kan­ta­ten kein Rock­kon­zert statt­fin­det. Egal ob es sich um eine Werk­be­zeich­nung, ei­ne knap­pe Er­läu­te­rung in­halt­li­cher oder kon­tex­tu­el­ler Ge­sichts­punk­te oder ei­ne um­fas­sen­de­re sach­be­zo­ge­ne Ab­hand­lung han­delt, bil­det der­lei in­de­xi­ka­li­sches Bei­werk ei­ne se­man­ti­sche Ein­klam­me­rung, wel­che nur im Ver­bund mit dem als sol­chen aus­ge­wie­se­nen Be­zugs­ge­gen­stand ei­ne funk­tio­nie­ren­de Ein­heit er­gibt. Un­ge­ach­tet der Fra­ge, ob man sich in­fol­ge ei­ner dies­be­züg­li­chen Fehl­de­kla­rie­rung ein­ge­denk per­sön­li­cher Vor­lie­ben mit dem fäl­schli­cher­wei­se Vor­ge­setz­ten an­zu­freun­den be­reit ist, wi­der­strebt ein auf die­se Wei­se her­bei­ge­führ­ter Bruch in­ner­halb ei­nes de­duk­ti­ven Kon­ti­nu­ums auch dem Be­dürf­nis da­nach, dass aus de­zi­dier­ten Prä­mis­sen ei­ne fol­ge­rich­ti­ge Kon­klu­sion zu re­sul­tie­ren habe.

Neu­ro­wis­sen­schaft­li­chen An­nah­men zu­fol­ge kön­nen kog­ni­ti­ve Dis­so­nan­zen die Em­pa­thie- und Lern­fä­hig­keit von Men­schen stö­ren und psy­chi­sche Kri­sen ver­ur­sa­chen. In­des hat die Fra­ge, in­wie­weit es mit der sach­li­chen Kor­rekt­heit von In­for­ma­tio­nen ei­ne über uti­li­ta­ris­ti­sche Be­lan­ge hi­naus­ge­hen­de Be­wandt­nis ha­be, bis­lang ver­gleichs­wei­se we­nig de­zi­dier­te Be­ach­tung er­fah­ren. Ent­ge­gen ei­ner Viel­zahl phi­lo­so­phi­scher Kon­zep­tio­nen, in­ner­halb de­rer das Mo­ment der Schön­heits­er­fah­rung un­ter ob­jek­tiv ve­ri­fi­zier­ba­re Ge­setz­mä­ßig­kei­ten und Kri­te­rien sub­su­miert wird, fin­det sich be­reits bei Platon der Ge­dan­ke, dass die Wahr­heit selbst ein kon­sti­tu­ti­ves We­sens­merk­mal des Schö­nen sei. Auch wenn der hier sta­tu­ier­te Grund­satz ein­ge­denk der ihm zu­grun­de­lie­gen­den Kon­zep­tion der pla­to­ni­schen Ideen­lehre auf An­hieb ein we­nig wol­kig an­mu­tet, zei­gen sich präg­nan­te Ana­lo­gien zu re­zep­tions­äs­the­ti­schen Funk­tions­wei­sen, wel­che ge­ra­de im Hin­blick auf die bil­den­de Kunst als ga­ttungs­im­ma­nen­tes Spe­zi­fi­kum an­ge­se­hen wer­den dür­fen, ob­gleich sie sich als sol­ches erst in­fol­ge kul­tur­i­de­o­lo­gi­scher Rich­tungs­kämp­fe e­ta­bliert ha­ben. 1970 gab Joseph Beuys die De­vi­se aus, dass sich künst­le­ri­sches Han­deln nun­mehr an der Maß­ga­be orien­tie­re, on­to­lo­gi­sche Ge­ge­ben­hei­ten phy­sisch an­schau­bar zu ma­chen. Gleich­wohl es sich bei der Vor­stel­lung vom Künst­ler als Trä­ger gnos­ti­scher Fä­hig­kei­ten um ein be­reits seit dem 18. Jahr­hun­dert über­lie­fer­ten To­pos han­delt, bleibt zu kon­sta­tie­ren, dass sich ins­be­son­de­re die au­ra­ti­sche Auf­lad­bar­keit Beuys­scher Ar­te­fak­te, wie sie in­tel­lek­tu­ell durch eine bis heu­te an­dau­ern­de Flut exe­ge­tisch an­ge­leg­ter Pub­li­ka­tio­nen un­ter­baut wird, als nach­hal­ti­ge Blau­pau­se kunst­the­o­re­ti­scher Re­zep­tions­wei­sen eta­bliert zu ha­ben scheint.

Sigmar Polke: Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen, 1969, Acryl- und Lackfarbe auf Leinwand, 151,3 x 126,1 cm, Sammlung van Abbe Museum, Eindhoven

Wie in Form ei­ner se­man­ti­schen Ein­klam­me­rung kon­sti­tu­ie­ren sich über welt­an­schau­li­che Kon­zep­tio­nen die Pa­ra­me­ter an­hand de­rer sich die Rich­tig­keit jed­we­der Er­kennt­nis über­haupt erst er­mes­sen lässt. Ganz gleich, ob man die Vor­stel­lung ei­ner Ge­ne­sis, eines Ur­knalls oder ei­nes pla­to­ni­schen Ideen­him­mels zu­grun­de legt, lässt sich der klein­ste ge­mein­same Nen­ner in die­sem Zu­sam­men­hang an­hand phy­si­ka­li­scher Kon­stan­ten he­raus­stel­len, wel­che selbst je­der welt­an­schau­li­chen Er­kennt­nis vo­raus­ge­hen und wel­che so­mit kein ar­bi­trä­rer Ge­gen­stand da­hin­ge­hen­der Über­le­gun­gen sein kön­nen – Raum und Zeit sind, wie auch Immanuel Kant aufs Sorg­fäl­tig­ste dar­legt, Vo­raus­set­zun­gen für das Den­ken selbst und be­zeich­nen so­mit ei­ne Gren­ze bis hin­ter wel­che das­je­ni­ge nicht vor­drin­gen kann. Er­fah­run­gen, in­fol­ge de­rer es zu ei­ner In­fra­ge­stel­lung die­ser Vo­raus­set­zun­gen kommt, he­beln die Fun­da­men­te mensch­li­cher Vor­stel­lungs­kraft aus und be­för­dern die ra­tio­nal ge­lei­te­te Wahr­neh­mung in den Blind­flug­mo­dus. In en­ger An­leh­nung an au­to­bi­o­gra­phi­sche Ge­ge­ben­hei­ten er­zählt Al­bert Ca­mus in „Der er­ste Mensch“ die Ge­schich­te ei­nes Man­nes, wel­cher erst­mals das Grab sei­nes früh ver­stor­be­nen Va­ters auf­sucht und wel­chen die Tat­sa­che, dass der dort be­gra­be­ne Mann jün­ger sei als er selbst, in sei­nen ge­dank­li­chen Grund­fes­ten er­schüt­tert.

“Die Abfolge der Zeit selbst zerbrach
rings um ihn, den bewegungslos zwischen
den Gräbern Stehenden, die er nicht mehr
wahrnahm, und die Jahre hörten auf, sich
jenem großen Strom folgend anzuordnen,
der seinem Ende entgegenfließt.”
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An­nä­hernd ähn­lich wie dem hier vor­ge­stell­ten Pro­ta­go­nis­ten mag es Zei­tungs­le­sern er­gan­gen sein, wel­che sich im Rah­men da­hin­ge­hen­der Be­richt­er­stat­tung die im De­zem­ber letz­ten Jah­res ent­stan­de­nen Auf­nah­men des James-Webb-Welt­raum­te­les­kops an­ge­schaut ha­ben – ana­log zur dis­kon­ti­nu­ier­li­chen Zeit­wahr­neh­mung als li­te­ra­ri­schem Mo­tiv ver­hält sich so die Tat­sa­che, dass sich an­hand der hier ge­zeig­ten Bil­der ein Mil­liar­den Jah­re zu­rück­lie­gen­des Ge­sche­hen in Echt­zeit ver­fol­gen lässt. Ein­her­ge­hend mit der bis auf Wei­te­res be­stä­tig­ten Ge­wiss­heit, dass das auf der Erde statt­fin­den­de Le­ben auch in­ner­halb ei­nes nun­mehr na­he­zu un­er­mess­lich er­wei­ter­ten Ra­dius mit sich al­lei­ne bleibt, stellt sich die Fest­stel­lung ein, dass die hier zu Ta­ge ge­för­der­ten An­sich­ten von Ga­la­xien­an­häu­fun­gen von gro­ßer Schön­heit sind.

Wie sich an­hand die­ser Ge­gen­ü­ber­stel­lung zwei­er dis­pa­ra­ter Sach­ver­hal­te be­reits er­se­hen lässt, er­eig­nen sich der­lei Si­tu­a­tio­nen bes­ten­falls ge­le­gent­lich, wo­ran sich in­so­fern ei­ne Pa­ral­le­le zu den Wer­ken des eng­li­schen Küns­tlers Mark Alexander auf­zei­gen lässt, als dass auch die­se in nicht all­zu kur­zen Ab­stän­den ent­ste­hen. Da­rü­ber hi­naus er­weist sich als si­gni­fi­kan­te­re Ge­mein­sam­keit ei­ne Qua­li­tät, wel­che sich we­ni­ger mit dem At­tri­but der Zeit­lo­sig­keit als mit je­nem ei­nes Un­ter­wor­fen­seins un­ter ei­ge­ne zeit­li­che Ge­setz­mä­ßig­kei­ten auf den Punkt brin­gen lie­ße. Ein par­ti­ku­lä­res Mo­ment, wel­ches sich an­hand ei­ner iko­no­gra­phisch mo­ti­vier­ten Be­trach­tungs­wei­se kaum hin­rei­chend spe­zi­fi­zie­ren lässt. Wie Ge­dan­ken­bil­der, wel­che sich los­ge­löst vom je­wei­li­gen Erin­ne­rungs­kon­text zu au­tar­ken Sym­bo­len ent­wickeln, ma­ni­fes­tie­ren sich hier axio­ma­ti­sche Aus­sa­gen, de­ren Trag­wei­te an die Gren­ze des ra­tio­nal Be­gründ­ba­ren reicht.

Ausstellungsansicht – Mark Alexander, Gemäldegalerie Berlin, 2016, Courtesy der Künstler

Wie es der dä­ni­sche Phi­lo­soph Søren Kier­ke­gaard trocken auf den Punkt ge­bracht hat, wird das Le­ben vor­wärts ge­lebt und rück­wärts ver­stan­den, wo­bei Letz­te­res nicht erst zum spä­test­mö­gli­chen Zeit­punkt, son­dern glei­cher­ma­ßen in Form ei­ner zwi­schen­zeit­li­chen Be­stands­auf­nah­me statt­fin­den kann. Klar ist auch, dass sich die In­te­res­sant­heit dies­be­züg­li­cher Er­kennt­nis­se im We­sent­li­chen an nichts an­de­rem als der In­te­res­sant­heit des bis da­hin Er­leb­ten be­mes­sen kann, und dass auch die Pers­pek­ti­ve, wel­che man im Hin­blick auf welt­an­schau­li­che Fra­gen ein­nimmt, nicht mehr als ein Re­sul­tat dies­be­züg­li­cher Schlüs­sel­mo­men­te sein kann. Wür­de man et­wa­i­ge on­to­lo­gi­sche As­pek­te in Mark Ale­xan­ders Œuvre in Re­la­tion zu bi­o­gra­phi­schen Tat­sa­chen brin­gen wol­len, blie­be zu­nächst zu kon­sta­tie­ren, dass sein bis­he­ri­ger Wer­de­gang denk­bar ge­rin­ge Zü­ge ei­nes durch­ge­hen­den Hand­lungs­ge­sche­hens auf­weist. Ge­­bo­­ren 1966 im süd­­eng­­li­­schen Hors­ham und auf­­ge­­wach­­sen in der Klein­­stadt Ci­­ren­­ces­­ter, wo er ei­­ne Zeit lang in ei­­ner Sil­­ber­­schmie­­de­­werk­­statt ar­­bei­­te­t, ver­schlägt ihn sein Weg als jun­ger Mann auf ei­ne mit­­tel­­gro­ße Odys­­see, im Zu­­ge de­­rer er sich un­­ter an­­de­­rem als Fach­­ar­­bei­­ter im Be­­reich der Luft- und Raum­­fahrt­­tech­­nik selbst­­stän­­dig mach­t, Mai­­län­­der Po­­li­­zis­­ten Eng­­lisch bei­­zu­­brin­­gen ver­­sucht und er, in­­fol­­ge ei­­ner Ver­­ket­­tung be­­son­­de­­rer Um­­stän­­de, in ei­­ne ar­­gen­­ti­­ni­­sche Gaucho-Ge­­mein­­de auf­ge­nom­men wird.

Im Hin­blick auf sei­ne küns­tle­ri­sche Lauf­bahn, wel­cher die we­nig spä­ter be­stan­de­ne Auf­nah­me­prü­fung an der Ox­for­der Rus­kin School of Art vo­raus­ging, sagt Mark Ale­xan­der selbst, dass er sich in ent­schei­den­den Si­tu­a­tio­nen im­mer wie­der als Fi­gur in­ner­halb ei­ner spie­le­ri­schen Ge­samt­kons­tel­la­tion wahr­ge­nom­men und ver­hal­ten ha­be. Ent­ge­gen al­ler Maß­ga­ben öko­no­mi­scher Ren­ta­bi­li­tät und der vor­herr­schen­den kunst­be­trieb­li­chen Usan­cen geht sein Ein­tritt in die Kunst­welt mit dem Ent­schluss ein­her „das groß­ar­tig­ste Ge­mäl­de der Welt“ an­zu­fer­ti­gen. Das Er­geb­nis, ein in mo­na­te­lan­ger Ar­beit nach Art ei­nes gold­ge­schmie­de­ten Re­liefs an­ge­fer­tig­ter Ton­do, in des­sen Mit­te er sich selbst nach Vor­la­ge ei­nes Kin­der­fo­tos und ein­ge­denk ei­ner Nu­an­ce bri­ti­schen Hu­mors als klei­ner Son­nen­kö­nig in­sze­niert, fin­det sei­nen Weg schließ­lich in die alt­meis­ter­li­che Ber­li­ner Ge­mäl­de­ga­ler­ie. So, wie die­ses Werk den Auf­takt zu ei­ner wei­te­ren Rei­he bi­o­gra­phi­scher Zä­su­ren mar­kiert, scheint auch der er­staun­te Aus­druck des klei­nen Jun­gen die Ver­wun­de­rung über die meh­re­ren Le­ben, wel­che sein er­wach­se­nes Ich zum ge­ge­be­nen Zeit­punkt be­reits an­ei­nan­der­ge­reiht hat, aus ei­ner ent­rück­ten Ver­gan­gen­heit zu­rück­zu­spie­geln. Zu­gleich fin­det im se­he­ri­schen Blick, mit wel­chem zu­künf­ti­ge Schick­sals­wen­dun­gen hier an­ti­zi­piert zu wer­den schei­nen, eine seis­mo­gra­phi­sche Wahr­neh­mung Aus­druck, wel­che sich wie­de­rum wie ein ro­ter Fa­den in­ner­halb Mark Alexanders ge­sam­ter Mo­ti­vik aus­ma­chen und als sol­che auch vor dem Hin­ter­grund kul­tur­his­to­ri­scher In­ku­na­beln er­ör­tern lässt: „Ich ar­bei­te da­ran, mich se­hend zu ma­chen (…) Es ist falsch zu sa­gen: Ich denke; man soll­te sa­gen: Es denkt mich.“2 schreibt Ar­thur Rim­baud, wäh­rend Pa­ris im Zu­ge der Kämp­fe um die Pa­ri­ser Kom­mu­ne in Flam­men steht und legt gleich­sam eine Blau­pau­se für ei­ne äs­the­tisch mo­ti­vier­te Sicht­wei­se auf ei­ne auch die­ser Ta­ge ih­ren Lauf neh­men­den Ver­falls­e­po­che vor. Ei­nen zu­neh­mend aus­sichts­lo­sen Kampf um ih­re zu­künf­ti­gen Le­bens­grund­la­gen füh­rend, kle­ben sich jun­ge Men­schen auf Stras­sen fest, wäh­rend Mil­liar­dä­re, die ei­ne Bi­bel wie ei­ne vor­ge­hal­te­ne Waf­fe in die Ka­me­ra hal­ten oder an Bord ih­rer ei­ge­nen Ra­ke­te gen Him­mel fah­ren, ein iko­no­gra­phi­sches Pro­gramm von ko­los­sa­ler ni­hi­lis­ti­scher Spreng­kraft be­grün­den.

Mark Alexander: Lincoln I, Öl auf Leinwand, 85,1 x 73 cm, 2013, Courtesy der Künstler

So wie Dich­ter und Kün­stler seit je­her als bes­ten­falls hell­sich­ti­ge Chro­nis­ten des Welt­ge­sche­hens in Er­schei­nung ge­tre­ten sind, lässt sich ei­ne im Rück­blick pro­phe­tisch an­mu­ten­de Aus­deu­tung dies­be­züg­li­cher ge­schicht­li­cher Vor­zei­chen an­hand ei­ner mit „The Amer­i­can Bog Pain­tings“ über­ti­tel­ten Werk­se­rie exem­pli­fi­zie­ren. An­ders als der eng­li­sche Ter­mi­nus his­to­ry, des­sen Wort­laut ei­ne se­man­ti­sche Schnitt­men­ge mit je­nem der Er­zäh­lung auf­weist, evo­ziert das deut­sche Ge­schich­te ent­spre­chend sei­ner ety­mo­lo­gi­schen Ver­wandt­schaft zum eng­li­schen shift bzw. zum deut­schen Schicht, ei­ne Vor­stel­lung suk­zes­si­ver Se­di­ment­ab­la­ge­run­gen, de­ren Of­fen­le­gung wie­de­rum Auf­schluss über lan­ge ver­gan­ge­ne Ge­scheh­nis­se zu ge­ben ver­mag. Der Vor­gang des Her­vor­ho­lens aus der Tie­fe, wie er bei­spiels­wei­se im Zu­ge ar­chä­o­lo­gi­scher Aus­gra­bun­gen statt­fin­det, be­för­dert ein kol­lek­ti­ves Ge­dächt­nis um den Preis ei­ner Un­ord­nung, wel­che hier­mit in den na­tür­li­chen Kreis­lauf des Wer­dens und Ver­ge­hens ge­bracht wird. So, wie sich das Ver­ständ­nis des Sta­tus Quo aus je­nem sei­nes bis­he­ri­gen Zu­stan­de­kom­mens er­gibt, de­fi­niert sich jed­wede Zu­kunfts­prog­no­se vor dem Hin­ter­grund bis­lang fort­be­ste­hen­der Kon­ti­nu­i­tä­ten und je atem­lo­ser sich ei­ne so an­ge­trie­be­ne Vor­wärts­be­we­gung per­pe­tu­iert, des­to un­mög­li­cher wird es, in­ne­zu­hal­ten und Sel­bi­ge in Fra­ge zu stel­len. Ein­ge­denk ei­ner Epo­che, in der dem Pri­mat des Ak­tu­a­li­täts­be­zugs höchs­te Pri­o­ri­tät bei­ge­mes­sen wird, scheint sich Mark Ale­xan­der von die­sem Sche­ma zu lö­sen, in­dem er iko­ni­sche Mo­ti­ve der US-ame­ri­ka­ni­schen Ge­schich­te wie ein kurz nach des­sen be­rühm­ter Get­tys­burg-Rede ent­stan­de­nes Por­tait­pho­to Abra­ham Lin­colns, zum Ob­jekt ei­ner über­zeit­li­chen Be­trach­tung macht – eine le­dri­ge Tex­tur, wie sie die Haut durch na­tür­li­che Ger­bungs­pro­zes­se über Jahr­tau­sen­de kon­ser­vier­ter Men­schen­fun­de kenn­zeich­net, evo­ziert so zu­gleich ei­nen Blick aus wei­tem zeit­lichen Ab­stand wie auch ei­nen frag­wür­di­gen Zu­stand, zu wel­chem die de­mo­kra­ti­schen Wer­te der da­mals noch jun­gen Na­tion die­ser Ta­ge ver­kom­men zu sein schei­nen.

Stel­len wir uns ge­schicht­li­che Er­eig­nis­se als Bil­der vor, die ent­lang ei­ner lan­gen Ga­le­rie auf­ge­han­gen sind, dann ist der lee­re Raum zwi­schen ih­ren Wän­den die Zeit selbst, wo­bei ei­ner Rei­he von Mark Ale­xan­ders Dar­stel­lun­gen ei­ne glei­cher­ma­ßen of­fen­kun­di­ge wie sub­ti­le Er­fahr­bar­keit die­ser phy­si­ka­li­schen Grö­ße zu er­mög­li­chen ge­lingt. Ge­mäß ei­ner in­tu­i­ti­ven Er­kennt­nis, dass sich zei­chen­haf­te Vor­her­sa­gen in­ner­halb ei­nes Fun­dus bild­lich ver­mit­tel­ter Erin­ne­rung aus­le­sen las­sen, os­zil­lie­ren die sich je­weils aus ver­gan­ge­nen, ge­gen­wär­ti­gen und zu­künf­ti­gen Pers­pek­ti­ven mit­tei­len­den In­for­ma­tio­nen in ein- und dem­sel­ben Mo­tiv. Wenn Pla­ton Recht hat­te da­mit, dass Schön­heit ei­ne Ma­ni­fes­ta­tions­wei­se des Wah­ren dar­stellt, dann er­scheint auch der äs­the­tisch mo­ti­vier­te Blick, wel­cher sich un­ter der­lei Vor­zei­chen auf ge­schicht­li­che oder an­thro­po­lo­gi­sche Zu­sam­men­hän­ge wer­fen lässt, res­pek­ti­ve der tech­ni­schen Fä­hig­kei­ten, die Schön­heit des so Ge­se­he­nen wahr­heits­ge­mäß ins Werk zu set­zen, als spe­zi­fi­scher Kunst­griff, an­dern­falls in­kom­men­su­rab­le Wahr­hei­ten ans Licht zu brin­gen. Wie sich in der Kon­stel­la­tion der Zei­ger auf ei­nem Zif­fer­blatt mit je­der ver­ge­hen­den Se­kun­de ei­ne neue op­ti­sche Kon­fi­gu­ra­tion ab­zeich­net, ist es ei­ne fort­dau­ern­de Ab­fol­ge von Bil­dern, in de­nen der Zeit­sinn von ei­nem Au­gen­blick zum nächs­ten ei­nen ob­jek­ti­ven Orien­tie­rungs­punkt fin­det. Zur Er­fas­sung des­sen, was über das im­mer­wäh­ren­de Jetzt hi­naus­geht, bleibt die Me­ta­pher als Ver­such, der in sei­nem Be­stre­ben, das na­tur­ge­mäß nicht zu fi­xie­ren­de ganz und gar in ei­ne fi­xe An­schau­ungs­wei­se zu fas­sen, Ver­such blei­ben muss. An­ders als die Fi­gur des Chronos, wel­cher sei­ne ei­ge­nen Nach­kom­men auf­frisst oder in Sal­va­dor Da­lis zer­flie­ßen­den Uh­ren, funk­tio­niert das in Mark Ale­xan­ders Wer­ken Ge­zeig­te nicht als Me­ta­pher für das, was über das ge­dank­lich Fass­ba­re hi­naus­geht. Ohne Sel­bi­gen zu über­schrei­ten führt es den Be­trach­ter viel­mehr mit be­mer­kens­wer­ter Fein­füh­lig­keit bis ge­nau an des­sen Rand, um eine sinn­fäl­li­ge Idee ei­ner so un­ter­nom­me­nen Grat­wan­de­rung zu of­fen­ba­ren.

Ausstellungsansicht bei SAUVAGE in Düsseldorf 2021, Courtesy SAUVAGE & der Künstler

Mo­da­li­tä­ten wie die hier aus­ge­schöpf­te Band­brei­te an mi­me­ti­schen Fer­tig­kei­ten und ei­ne in die­sem Zu­sam­men­hang statt­fin­den­de Ver­wen­dung par­ti­ku­lä­rer iko­no­gra­phi­scher Be­zugs­grö­ßen sind so glei­cher­ma­ßen kon­sti­tu­ie­rend für das, was un­mit­tel­bar in den Bil­dern zum Vor­schein kommt wie für das Licht, in wel­chem die­ses er­scheint; mit dem Mo­­tiv ei­­ner weib­­li­chen Schau­­fens­­ter­­pup­­pe nebst ei­nes wei­­ßen Vo­­gels und ei­­ner an­­deu­­tungs­­wei­­se hin­­ge­­krit­­zel­­ten En­­gels­­fi­­gur nimmt sich ei­­nes der Bil­­der aus ei­ner mit Ver­mil­lion Sands über­ti­tel­ten Werk­se­rie dem bib­­li­­schen The­­ma der Ver­­kün­­di­­gung des Herrn an. Da­­bei er­­schei­­nen weit­­rei­­chen­­de Ver­­än­­de­­run­­gen, die die­­se Sze­­ne im Zu­­ge un­­zäh­­li­­ger küns­­tle­­ri­­scher Aus­­füh­­run­­gen bis zu die­­sem Punkt durch­­lau­­fen hat, in ei­ner wech­­sel­­sei­­ti­­gen Ent­­spre­­chung zu bi­­o­­gra­­phi­­schen Ge­­setz­­mä­­ßig­­kei­­ten, wel­­che sich wie­­de­­rum im Über­­gang von ei­­ner kind­­lich-pri­­mi­­ti­­ven Zeich­­nung zu höchs­­ter Kunst­­fer­­tig­­keit ab­­zeich­­nen. „Die Ewig­keit ist ver­liebt in die Schöp­fung der Zeit.“ heißt es bei Wil­liam Blake – ein Men­­schen­­le­­ben, ein Zeit­­al­­ter, ei­­ne Evo­­lu­­tions­­ge­­schich­­te… al­les klei­­ne, in­­ei­­nan­­der ver­­schach­­tel­­te Ewig­­kei­­ten, in de­­nen sich der Kreis­­lauf von Ent­­ste­­hung, Ent­­fal­­tung und Ver­­gäng­­nis voll­­zieht, lie­­ße sich an die­­ser Stel­­le tief­­sin­­nig hin­­zu­­fü­­gen. Wer die Zeit le­dig­lich nach öko­no­mi­schen Maß­ga­ben quan­ti­fi­ziert und ver­lernt, sich statt­des­sen dem ihr in­ne­woh­nen­den Fas­zi­no­sum zu er­ge­ben, treibt dem Leben jed­we­des Mys­te­ri­um aus. Mit ei­ner vom Phi­lo­so­phen Byung-Chul Han als „Ato­mi­sie­rung der Zeit“3 qua­li­fi­zier­ten Ten­denz geht zu­gleich eine Se­gre­gie­rung der Denk- und Wahr­neh­mungs­wei­sen ein­her. Dass mit der fort­schrei­ten­den De­mys­ti­fi­zie­rung al­ler uns um­ge­ben­den Er­schei­nun­gen auch ein Hor­ror Va­cui in­fol­ge ei­ner Ver­knap­pung plau­sib­ler Me­ta­phy­sik zu­gunst­en ei­nes im­mer zu­erst zum Pri­mat der ei­ge­nen Be­lan­ge ten­die­ren­den Uti­li­ta­ris­mus vo­ran­schrei­tet, be­för­dert letzt­lich ei­ne gro­ße Ein­fäl­tig­keit, von der die Prä­mis­sen äs­the­ti­scher Ur­tei­le nicht aus­ge­nom­men blei­ben. Weit­aus aben­teu­er­li­cher ist da ei­ne ent­ge­gen­ge­setz­te Denk­rich­tung, zu wel­cher sich in ein­ge­hen­der Be­trach­tung der hier be­spro­che­nen Wer­ke aus­ge­such­te Ge­le­gen­heit bie­tet. Wer ver­steht, dass die on­to­lo­gi­sche Lee­re als frei­er Raum für fi­li­gra­ne Vor­stel­lungs­ge­bil­de of­fen steht, hat den ent­schei­den­den Schritt be­reits ge­tan.

Fußnoten

  1. Albert Camus: Der erste Mensch, Hamburg 1995, S. 33.
  2. Arthur Rimbaud: Seher-Briefe, Mainz 1990, S. 11.
  3. Vgl. Byung-Chul Han: Der Duft der Zeit, Bielefeld 2009.

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