Ausstellungsansicht, Courtesy Galerie Beck & Eggeling und die Künstler, Düsseldorf, Foto: Linda Inconi
Neue alte Meister – Gehard Demetz & Desmond Lazaro: Identities, Galerie Beck & Eggeling
„Geisteswissenschaftler bewegen sich in einem Meer aus Wissen – mit zehn Zentimetern Tiefgang.“ Dieses Bonmot, mit dem eine Person aus meinem Freundeskreis im vorgerückten Stadium eines gemeinsamen Restaurantbesuchs einmal für Erheiterung gesorgt hat, könnte, soweit man nicht gerade mit überragenden kognitiven und intellektuellen Kapazitäten gesegnet ist, auch ein treffendes Berufscredo für all jene abgeben, die sich das Reden und Schreiben über die Kunst zur Aufgabe gemacht haben. Für den Fall, dass sich der eigene Kopf auch infolge redlicher Bemühung als ungeeignet herausstellt, um Inhalte ganzer Bibliotheksregale mit sich herumzutragen, ist es umso wichtiger, sich die gerade benötigten Informationen auf die Schnelle aneignen zu können, um sie, bestenfalls eloquent daherkommend, an den sprichwörtlichen Mann zu bringen. Neben einer auf bereits existierenden Erkenntnissen basierenden Bearbeitung eines Themas besteht eine weitere Möglichkeit darin, sich zwecks selbstständiger Analysen an etablierten Verfahrensweisen zu orientieren; Methoden, die gemeinhin von bedeutenden Kunstsachverständigen entwickelt wurden und deren Vermittlung hauptsächlich im akademischen Rahmen stattfindet. Eine der interessantesten Positionen, denen man sich in diesem Zusammenhang zuwenden kann, stellt sicherlich Aby Warburg dar, über den ich im Laufe meines Kunstgeschichtsstudiums an der HHU mal ein Seminar absolviert habe.
Gehard Demetz: Only the Princess looks normal, 2020, Lindenholz, 147 x 102 x 42 cm, Courtesy Galerie Beck & Eggeling und der Künstler, Düsseldorf, Foto: Linda Inconi
Warburg, der 1866 als Spross einer Hamburger Bankiersdynastie zur Welt kam und sich hinsichtlich seiner partikulären Berufswahl einer lebenslangen finanziellen Unterstützung gewiss sein konnte, gilt aus heutiger Sicht als maßgeblicher Initiator neuer Denkweisen, deren progressiver und teils experimenteller Charakter die Grenzen der Kunstwissenschaft nachhaltig ausgeweitet hat. Ihre konsequenteste Anwendung fanden diese Ideen im unvollendet gebliebenen und posthum veröffentlichten Mnemosyne-Atlas, welcher mir damals als Referatsthema zugeteilt wurde.1 Der zentrale Inhalt besteht hierbei in 63 abfotografierten Bildtafeln mit jeweils dutzenden von Einzelabbildungen, anhand derer eine regionen- und epochenübergreifende Genese unterschiedlichster Motive von ihren archaischen Ursprüngen bis in die damalige Gegenwart veranschaulicht werden soll. Ich weiß noch, dass mir die Lektüre der dahingehenden Erläuterungen aufgrund ihrer Komplexität und der darin eingeflochtenen Exkurse in den Bereich der Anthropologie und der Psychologie etwas Schwierigkeiten bereitet hat. Wesentlich in Erinnerung geblieben ist mir Warburgs Behauptung, dass der Mensch, quasi von den frühesten Mammutmalereien an, die Kunst braucht, um sich psychisch von einer vor existentiellem Bedrohungspotential strotzenden Umgebung abzugrenzen und dass die infolge dahingehender Reflexe entstandenen Urbilder als Bestandteil eines kollektiven Gedächtnisses von Generation zu Generation überdauern. Kunst funktioniert demnach als ein Mittel, Grenzerfahrungen zum Gegenstand musischer Behandlung zu machen und somit eine innere Distanz gegenüber einer bisweilen lebensfeindlichen Welt herbeizuführen.
Ausstellungsansicht, Courtesy Galerie Beck & Eggeling und die Künstler, Düsseldorf, Foto: Linda Inconi
Aktuell in den Sinn gekommen ist mir das warburgsche Theorem anlässlich einer Ausstellung mit Werken des italienischen Bildhauers Gehard Demetz und des britischen Malers Desmond Lazaro, die zur Zeit bei Beck & Eggeling präsentiert wird und die den Aspekt einer durch bildnerische Traditionen beförderten Erinnerungskultur auf besondere Weise erfahrbar macht. Darüber hinaus zeigt sich eine ideelle Gemeinsamkeit zwischen den hier gegenübergestellten Positionen in der Neukultivierung im Verschwinden begriffener Techniken und Stilformen, die mit der jeweiligen persönlichen oder familiären Herkunft zusammenhängen. Demetz, der 1972 im südtirolischen Bozen geboren wurde und in der nahegelegenen Gemeinde Wolkenstein lebt, hat sich das in seiner Heimatregion seit Jahrhunderten betriebene Kunsthandwerk der Holzschnitzerei im Rahmen einer speziellen schulischen Ausbildung angeeignet und verwendet die in diesem Zusammenhang gebräuchliche Sakralmotivik als Ausgangspunkt einer zeitgemäßen Programmatik. Im Mittelpunkt stehen dabei immer wieder Darstellungen von Kindern, die wie nach Heiligenmanier mit attributiven Gegenständen ausgestattet werden oder sich auf gespenstische Art mit jenen mythologischer Figuren überschneiden. Gleichzeitig macht sich eine beunruhigende Wirkung auch am Gesichtsausdruck und der Körpersprache der Jungen und Mädchen fest, welche eine ungute Mischung aus Apathie und Zorn signalisieren und einen als gefühlten Adressaten der hier zum Ausdruck gebrachten Gemütsregungen in eine ambivalente Situation bringen. Hat man es mit Opfern religiöser Indoktrinierung zu tun, oder manifestiert sich im gekreuzigten Jesus, welcher hier neben den hinduistischen Gottheiten Kali und Ganesha in Erscheinung tritt, eine juvenile Energie, vor der man sich besser in Acht nehmen sollte? Demetz, der offensichtlich über eine weitreichende humanistische Bildung verfügt und die in sein Werk einfließenden Überlegungen in fortlaufenden Notizen festhält, greift in einer eigenen Erklärung auf die von Rudolf Steiner geprägte Vorstellung zurück, wonach das Heranwachsen mit dem Verlust angeborener spiritueller Fähigkeiten einhergehe.2
Desmond Lazaro: U.S.A. Texas 2017, 2019, handgemachte Pigmentfarbe auf Baumwolltuch auf einem Holzträger befestigt, 56 x 41 x 2,5 cm, Courtesy Galerie Beck & Eggeling und der Künstler, Düsseldorf, Foto: Desmond Lazaro.
Eine dezidiertere Auseinandersetzung mit Fragen ethnischer und kultureller Identität findet sich in den Bildern Desmond Lazaros, der 1968 als Sohn indischer Eltern in Leeds zur Welt kam und sich nach einem Kunststudium in Lancashire nach Indien begeben hat, um sich auf eine als Pichhvai bezeichnete Spielart der Miniaturmalerei zu spezialisieren. Gemäß der besonderen technischen und didaktischen Anforderungen führte der damit einhergehende Prozess zu einer langjährigen Arbeit in entsprechenden Werkstätten, woraufhin der Künstler die hier gewonnenen Erkenntnisse schließlich zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Promotion gemacht hat.3 Ähnlich wie Gehard Demetz hat er sich fortan von einer traditionellen Ikonographie gelöst, wobei er sich, analog zur Beschäftigung mit den eigenen genealogischen Wurzeln, auch von der Geschichte anderer nach England migrierter Menschen hat inspirieren lassen. Anlässlich einer 2019 in Cambridge präsentierten Ausstellung entstand so eine mit „Homelands“ betitelte Werkserie, welcher eine Begegnung mit gebürtig aus Chile, Ungarn, Bangladesch und den USA stammenden Bewohnern der Universitätsstadt vorausging. Persönliche Erinnerungen und Dokumente bilden dabei das Vorlagenmaterial für collagenartig aufgemachte Trompe-l’œils, in denen sich die auch anhand kurzer Begleittexte erläuterten Lebenserzählungen zu pointierten Bildformeln verdichten. Wie Lazaro selbst sagt, dient ihm die in diesen wie auch in den weiteren seiner hier zu besichtigenden Gemälde zu Tage tretende Kunstfertigkeit, um sich komplexen historischen, kulturellen und persönlichen Sachverhalten zuzuwenden.4
Desmond Lazaro: Chile 1973 (Camilla Iturra), 2019, handgemachte Pigmentfarbe auf Baumwolltuch auf einem Holzträger befestigt, 56 x 41 x 2,5 cm, Courtesy Galerie Beck & Eggeling und der Künstler, Düsseldorf, Foto: Desmond Lazaro.
Hinsichtlich der Frage, was das hier Gezeigte mit den eingangs dargelegten Überlegungen zu tun hat, ließe sich zunächst herausstellen, dass sich im Werk beider Künstler eine bisweilen als selbstverständlich erachtete kathartische Qualität offenbart, durch welche auch eine Beschäftigung mit ernsten Themen wie Adoleszenzkrisen oder dem Verlust der alten Heimat einen ästhetischen Mehrwert mit sich bringt. So, wie anhand biographisch oder religiös grundierter Motive Momente des individuellen oder kollektiven Erinnerns vor Augen geführt werden, ergeben sich Übereinstimmungen zu den Ausführungen, die Aby Warburg über seine Vorstellung vom „Nachleben der Bilder“ hervorgebracht hat. „Gute Kunst hat immer mehrere Einflugschneisen“ hat der Maler Werner Büttner mal gesagt und so sind sowohl die mit ihrer Anfertigung wie die mit dahingehender Betrachtung freiwerdenden Denkräume subjektiv bespielbar. Zeiten, in denen der gesellschaftliche Stellenwert von Kunst ernsthaft zur Diskussion gestellt wird und ein bedenklicher Teil der Bevölkerung zwischen privater Filterblase und postfaktischer Folklore der Degeneration anheimfällt, sind ein umso besserer Grund, sich auf die von Warburg angedachten Mechanismen zu besinnen. Also Maske auf und Kunst kucken kommen, damit im Kopfkino keine Katastrophenfilme laufen!
Gehard Demetz und Desmond Lazaro:
Identities
19. November 2020 – 30. Januar 2021
Beck & Eggeling
Bilker Str. 5
40213 Düsseldorf
Aktuelle Öffnungszeiten:
Dienstag – Freitag 14 – 18 Uhr
Samstag 12 – 16 Uhr
Die Ausstellung kann mit Mundschutz und infolge einer Voranmeldung besichtigt werden.
Fußnoten
- Vgl. Warnke, Martin (Hrsg.), Warburg Aby: Der Bilderatlas Mnemosyne, 2. Auflage, Berlin 2003.
- Vgl. Interview zwischen Gehard Demetz und Luigi Fassi, in: Gehard Demetz. Sculptural Child Figures, Mailand 2008, S. 77.
- Lazaro, Desmond: Materials, Methods & Symbolism in the Pichhvai Painting Tradition of Rajasthan, Ahmedabad 2005.
- Vgl. Desmond Lazaro. Recent Works, London 2012, S. 5.